Dieser kurze Aufsatz wurde 1991 verfasst und in der Zeitschrift „Für
den Gottesdienst” der „Liturgischen Konferenz in Niedersachsen” veröffentlicht.
Er wurde jetzt nur sehr geringfügig überarbeitet.
Es ist schon einiges geschrieben worden über das Judentum
in der christlichen Liturgie. Es ist daher bewusst nicht der Begriff „Liturgie”
in den Titel mit eingeflossen, um deutlich zu machen, dass es in diesem Beitrag
nicht um die Frage theologischer Termini und ihrer Verwendung innerhalb der Liturgie,
sondern um die praktisch-theologische Problematik des angemessenen Umgangs mit dem
„Alten Testament” im Gottesdienst, dem Versammlungsort der christlichen
Gemeinde, geht.
Zunächst einmal ist festzuhalten, dass ein Teil der Heiligen Schrift,
die im reformatorischen Gottesdienst das Zentrum darstellt, zugleich die Heilige
Schrift des jüdischen Volkes ist und somit im christlichen Gottesdienst eine
enge Beziehung zum jüdischen Volk und seinem Glauben hergestellt wird. Das
sogenannte „Alte Testament” ist über fast 2 Jahrtausende hinweg von
den Christen als Wegbereiter und Vorläufer des Neuen Testamentes angesehen
und behandelt worden. Die Reihe der Predigttexte (6 Jahrgänge) sah bis zum Jahr 2018,
obgleich das „Alte Testament” einen wesentlich größeren Umfang
hat als das „Neue”, nur eine einzige Reihe für alttestamentliche
Lesungen und Predigt vor. Dazu kommt, dass die Auswahl der Texte manchmal sehr
offensichtlich einer längst als unangemessen beurteilten Auslegungsgeschichte
folgte (so z.B. die Erzählung von Jona im Bauch des Fisches
als Lesung zum Karsamstag. Die Erzählung galt bei den Kirchenvätern als
Hinweis auf Jesu Abstieg in das Reich des Todes - „Das Zeichen des Jona”.
Es mag zwar ganz interessant sein, dieser Auslegungsgeschichte nachzugehen; für
die Predigt am Karsamstag ist der Text jedoch kaum geeignet, wenn man ihm theologisch
gerecht werden will). Nur in den Marginaltexten tauchen zusätzlich öfter
alttestamentliche oder apokryphe Texte auf, die aber in der Regel nicht für
eine Predigt herangezogen werden.
Diese Beobachtung bestätigt, dass sich in der grundsätzlichen Einstellung
zum „Alten Testament” nichts geändert hat: es bleibt Wegbereiter,
Vorläufer, und damit unvollkommen. Es ist völlig verloren gegangen, dass
bis in das 2. Jahrhundert hinein die meisten Gemeinden das „Alte Testament”
als einzige heilige Schrift, auf die sie Bezug nehmen konnten, zur Verfügung
hatten. Es war die Interpretation durch die Apostel und Gläubigen, die die
Botschaft vom durch Jesus Christus gewirkten Heil an die Gemeinde vermittelte. Die
Evangelien konnten nicht in der Geschwindigkeit verbreitet werden, in der heute
ein Buch auf den Markt kommt, und die Briefe des Paulus, wohl die ältesten
Schriftstücke, waren ja zunächst nur an einzelne Gemeinden gerichtet und
wurden von da nicht ohne Weiteres an andere Gemeinden verschickt. Es ist bekannt,
dass der Kanon erst um 200 in einer nicht ganz einheitlichen Form vorlag, wobei
weiterhin nicht klar ist, inwieweit die darin enthaltenen Schriften den Gemeinden
zugänglich waren. Im Laufe der Kirchengeschichte wurde das Biblische Wort dann
fast vollständig von der kirchlichen Lehre verdrängt, und erst mit der
Reformation hat es neue Bedeutung für die Schar der Gläubigen erlangt.
Während jedoch für Martin Luther das „Alte Testament” durchaus
auch göttliches Wort war (solange es „Christum treibet”), so wurde
doch nur eine Leseordnung mit Evangelien- und Episteltext für die Gottesdienste
vorgesehen. Erst Ende des 19. Jahrhunderts wurde mit den Eisenacher Perikopen auch
eine Reihe alttestamentlicher Lesungen aufgenommen.
Grundsätzlich sieht die heutige Gottesdienstordnung drei Lesungen vor: eine
alttestamentliche Lesung, eine Evangelienlesung und eine Epistellesung. Es fällt
auf, dass mit dem gewachsenen Zeitdruck (Gottesdienste dauern selten länger
als eine Stunde, auch wenn sie mit Abendmahl gefeiert werden) auch biblische Lesungen
wegfallen. Die erste Lesung, derer man sich entledigt, ist die des Alten Testaments.
Die zweite ist die der Epistel. Es kommt sogar vor, dass die Evangelienlesung
ausfällt, wenn über das Evangelium gepredigt wird (um „Doppellesungen”
zu vermeiden). Allerdings geht es auch anders rum: Es wird nur der Text gelesen, der
auch Predigttext ist, und verzichtet dann darauf, diesen Text im Rahmen der Predigt
noch einmal zu lesen. Auf diese Weise rückt die Predigt stärker in den Mittelpunkt
als das Schriftwort, das nach reformatorischem Glauben Quelle des Glaubens ist und
eigentlich gar nicht der Auslegung bedarf (sacra scriptura sui ipsius interpres
- Die Schrift legt sich selbst aus). Und ganz nebenbei geht das wichtigste Element
der Gemeinschaft mit dem jüdischen Volk, das im Gottesdienst existiert, verloren:
das Alte Testament.
An dieser Stelle sollten wir kurz innehalten. Warum sollte es denn so wichtig sein,
Gemeinschaft mit dem jüdischen Volk zu haben? Denn die Juden kommen in Deutschland
ja sowieso kaum vor, und wenn, werden sie sich gewiss nicht in einen christlichen
Gottesdienst begeben. Es wird also auf der Ebene gar keine Begegnung geben können,
und somit ist das künstliche Erhalten einer nicht vorhandenen Gemeinschaft
doch widersinnig. An dieser Stelle ist es wichtig, sich immer wieder bewusst
zu machen, dass wir Christen, von Paulus her gesehen (Röm 11), „nur”
Christen aus den Heiden sind, aufgepfropft auf den Stamm, der das eigentliche Volk
Gottes ist und bleibt, auch wenn dessen Zweige abgeschnitten sind. Der christliche
Gottesdienst wäre kein christlicher Gottesdienst, wenn er sich nicht auch auf
seine Wurzeln im jüdischen Glauben und im jüdischen Volk besinnen würde.
Jesus Christus, der Begründer und Vollender unseres Glaubens, ist selbst als
Jude geboren und hat diesen Glauben nie verleugnet. Die Apostelgeschichte zeichnet
das Bild der Ausbreitung des christlichen Glaubens von Jerusalem, der jüdischen
Hauptstadt, aus. Wir finden im „Neuen Testament” keinen Hinweis darauf,
dass das jüdische Volk auf ewig von Gott verworfen sei. Und wenn sich
dann doch eine Stelle so interpretieren ließe, müsste man von der
in Christus offenbar gewordenen Liebe Gottes her jeden Verwerfungsgedanken ablehnen.
So bleibt es bei der Gemeinschaft mit dem jüdischen Volk, auch wenn sie uns
nicht bewusst ist. Die Wurzeln unseres Glaubens reichen in das „Alte Testament”
hinein, und wenn wir sie ausreißen würden, würden wir uns der Quelle
unseres Glaubens entledigen. Die Folgen eines solchen Unternehmens haben in den
Jahren 1933-1945 ein grausames Ausmaß angenommen. Es ist wünschenswert,
dass dies all denen, die sich mit der Gestaltung des christlichen Gottesdienstes
befassen, stets vor Augen bleibt.
Dr. Martin Senftleben
Ein Vorschlag für die Anordnung der Lesungen (um dem Zeitdruck entgegenzuwirken):
- Tagesgebet
- Alttestamentliche Lesung
- Wochenlied
- Epistellesung
- Halleluja
- Evangeliumslesung